Der Stadtschreiber von Diyarbekir

 

Die Kolumnen von Şeyhmus Diken

von Gerrit Wustmann

 

Dikranagerd nennen die Armenier die Stadt, die Kurden nennen sie Amed, die Türken Diyarbekir. Das Multilinguale, das Multikulturelle ist konstituierend für diesen Ort im Südosten der Türkei. Zugleich ist es ein Element, das sowohl die Osmanen als auch die Nationalisten und Erdogans Regime ein Dorn im Auge ist. Im Jahr 1915 wurde fast die komplette armenische Bevölkerung von Dikranagerd, mehr als 60.000 Menschen, deportiert, viele von ihnen ermordet. Hundert Jahre später fielen Erdogans Armee und Polizei in Diyarbekir ein, verhängten eine Ausgangssperre und richteten während ihrer vorgeblichen Jagd nach Terroristen ein Massaker an der Zivilbevölkerung an. Große Teile der historischen Bezirks Sur wurde zerstört. Um den Wiederaufbau kümmern sich heute staatsnahe Baukonsortien und Unternehmen, die eng mit der Familie Erdogan verbunden sind.

 

   Zwischen diesen Polen – den Katastrophen von 1915 und 2015 – pendeln die „Traurigen Kolumnen“ von  Şeyhmus Diken, die unlängst unter dem Titel „Amed Dikranagerd Diyarbekir“ auf Deutsch erschienen sind. Diken, der Politikwissenschaftler und Schriftsteller, 1954 innerhalb der historischen Stadtmauern geboren, ist ein Chronist Diyarbekirs. Ein Flaneur, der die Menschen in ihren Vierteln kennt und die Geschichten der Häuser, die sie bewohnen. Es sind Geschichten, die er nicht nur erzählt, weil sie erzählenswert sind; nicht nur, um zu zeigen, was Krieg und Repression anrichten; er erzählt auch, um die Pluralität der Stadt und der Region lebendig zu halten und sich ihrer Vernichtung entgegenzustemmen.

 

   Die Region ist bis heute schwer umkämpft. Hier ist die linksliberale Partei HDP treibende politische Kraft – 2015 hatte sie bei den Wahlen die regierende AKP um die Mehrheit gebracht, was dazu führte, dass

 

Erdogan mit Gewalt reagierte. Er brach die Friedensgespräche mit der PKK, in der die HDP als Vermittler auftrat, ab, schickte die Armee vor und kriminalisierte die kleine Partei. Heute sitzen neben den Parteichefs und mehreren Abgeordneten einige Tausend Mitglieder in

 

Haft, Hunderte gewählte Bürgermeister im Südosten der Türkei wurden abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt. Diyarbekir ist ein mahnendes Beispiel dafür, was jenen widerfährt, die sich dem Nationalismus entgegenstellen. Doch politische Details sind selten Gegenstand von Dikens Texten – man sollte sie allerdings kennen, um Vieles von dem, was er schreibt, einordnen zu können.

   Dass diese Kolumnen in der Türkei erscheinen konnten – Texte, in denen er den Begriff Völkermord verwendet – mag hiesige Leser überraschen. Kollegen von Diken sind für weniger verhaftet worden. Doch eben das ist Ausdruck des unberechenbaren Willkürsystems, das heute in der Türkei herrscht: Es kann jeden erwischen. Aber wen und wo und wann und aus welchen Gründen, das ist unmöglich vorauszusagen. Ein höchst effizientes System der Angst.

 

    „Bis zum Juni 2015 war das vorherrschende Gefühl Hoffnung“, schreibt Şeyhmus Diken eingangs. „Danach war alle Hoffnung plötzlich auf viel, viel später vertagt.“ Daran hat sich bis heute nichts geändert. Tagtäglich werden derzeit, im Vorlauf der Kommunalwahlen, die Ende März stattfinden, Razzien durchgeführt, Aktivisten der Zivilgesellschaft ebenso wie HDP-Wahlkämpfer verhaftet. Viele gehen davon aus, dass es die letzten Wahlen für sehr lange Zeit sein werden – und sie werden eine Farce sein, wie schon die Parlamentswahlen im Vorjahr.

 

Dieser Beitrag erschien im Onlineportal FIXPOETRY.