Stella Acıman

Istanbul im September 1955


Anfang September klingelte mitten in der Nacht Makbule Hanıms Telefon, als wolle es die gellende Klage herausschreien, mit der es eine Hiobsbotschaft überbringt. Im Dunkeln fand Makbule Hanım nur mit Mühe ihre Pantoffeln. So schnell es ihr gebrechlicher Körper erlaubte, rannte sie zum Telefon, nahm den Hörer ab und meldete sich ganz außer Atem: „Hallo?“
„Würden Sie mir bitte Monsieur Albert ans Telefon rufen?“ Makbule Hanım war benommen und konnte die Worte des Anrufers, der mit anatolischem Zungenschlag sprach, kaum verstehen.
„Wen wollen Sie zu dieser Zeit sprechen, guter Mann?“
Sie hatte sich aufgeregt, doch jetzt verflüchtigte sich ihre Schlaftrunkenheit.
Der Mann am Telefon wiederholte ganz aufgeregt: „Monsieur Albert, gute Frau! Ich bin Haydar!“
Makbule Hanım hatte den Kurden Haydar kennen gelernt, als die Familie Brana ausgezogen war. Er war einer der treuen Lastenträger aus dem Laden von Vater Moiz und transportierte jeden Sommer den Kühlschrank und anderen Hausrat aus der Wohnung in Istanbul in das Sommerhaus der Familie in Yeşilköy.
Sie wunderte sich und fragte: „Bei Gott, Haydar! Weshalb willst du mitten in der Nacht Monsieur Albert sprechen?“ Sie überlegte sich, dass es vielleicht Ester, der kranken Schwiegermutter Alberts, schlechter gehen könnte. Am Ende war sie gar gestorben. Doch sogleich fiel ihr ein, dass in diesem Fall sicher nicht Haydar anrufen würde.
Doch Haydar riss Makbule Hanım aus diesen Gedanken, denn er sagte: „Dort beim Laden passieren ganz schlimme Sachen, wenn Sie bitte sofort Monsieur Albert wecken würden ...“
„Schon gut, Haydar! Ich gehe ja schon, warte einen Augenblick.“ Makbule Hanım legte den Hörer auf einen Schemel, murmelte „Gott schütze uns vor allem Übel!“ und öffnete die Tür, die ihre Wohnung vom unteren Stock trennte, in dem die Branas lebten. Sie schaltete das Licht an und begann mit einer für ihr Alter unerwarteten Behändigkeit die Treppe hinab zu steigen. Als sie die untere Wohnungstür erreichte, murmelte sie immer noch Gebete. Dann begann sie an der Drehklingel neben der Tür zu läuten. Die Klingel quietschte und schnarrte in der nächtlichen Stille. Schon wenige Sekunden später hörte man von drinnen Monsieurs Albert aufgeregt, „Wer ist da?“ rufen.
„Monsieurs Albert, ich bin es ... Makbule! Machen Sie schnell auf!“ Als Albert Makbules Stimme hörte, öffnete er sofort. Kreidebleich im Gesicht brachte er nur „Meine Mutter?“ heraus. Makbule Hanım bemerkte Brana, die hinter ihrem Mann erschien und neugierig schaute.
„Nein, nein, es geht nicht um deine Mutter, mein Sohn! Sei nur ruhig. Haydar wartet am Telefon, er hat Sachen erzählt, die ich nicht verstanden habe. Am besten, du sprichst selbst mit ihm.“ Als Albert zum Telefon im Salon lief, das er gemeinsam mit Makbule Hanım benutzte, und dessen Klingeln er im Schlaf überhört hatte, weckte er mit dem Geräusch seiner Schritte auf dem Holzboden der Villa jeden einzelnen ihrer Bewohner.
„Hallo! Haydar! Was ist denn passiert?“ Albert hatte befürchtet, er würde die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhalten. Nach Makbule Hanıms Worten ging er nun etwas entspannter zum Telefon.
Er hörte Haydar sagen: „Monsieur Albert, hier passieren schlimme Sachen. Es wäre gut, wenn Sie kommen könnten.“
Albert wurde nervös und rief laut: „Was heißt schlimme Sachen, Haydar? Drücke dich etwas deutlicher aus!“
„Monsieur eine Menge Leute fallen mit Stöcken, Steinen und Äxten über das Geschäft her. Sie schlagen alles kurz und klein, sie plündern den Laden. Die ganze Umgebung brennt wie ein Feuerball. Versuchen Sie doch bitte herzukommen.“ An beiden Enden der Leitung herrschte jetzt schreckliche Stille – mit dem Hörer in der Hand blieb Albert wie erstarrt stehen.
„Was ist passiert Albert?“ Als Brana bemerkte, dass das Gesicht ihres Mannes plötzlich bleich wurde, erfasste sie Panik und sie glaubte die Stille durchbrechen zu müssen. Fatma Hanım war durch den Lärm aufgewacht und in den Salon gekommen. Alle warteten voller Unruhe auf eine Erklärung Alberts.
„Sie haben die Läden überfallen.“ Alberts kräftige Stimme veränderte sich, erinnerte jetzt an das Zischen einer Schlange. Nachdem er aufgelegt hatte, brauchte er einige Sekunden, um zu begreifen, dass diese Nachrichten der Wahrheit entsprachen. Mit schnellen Schritten verließ er den Salon, begab sich ins Schlafzimmer und begann sich anzuziehen. Als er die angsterfüllten Augen Branas sah, sagte er: „Geratet nicht in Panik, begebt euch alle hinauf zu Makbule Hanım und öffnet niemandem die Tür – wer immer auch klingeln mag!“
„Geh nicht weg, Albert! Du weißt doch gar nicht was dort vorgefallen ist. Bitte, geh nicht!“ Branas Augen waren vor Furcht ganz groß geworden, sie flehte ihn an. Doch Albert hatte keine Gelegenheit ihr zu antworten, denn jetzt hörten sie die Klingel unten an der Haustür. Sie schauten sich in die Augen. Albert, der die erste Aufregung schon überwunden hatte, sagte zu Brana: „Geh in den Salon, hol die Kinder zusammen und dann begib dich nach oben zu Makbule Hanım. Und löscht alle Lichter!“ Dann ging er zur Treppe, um nachzusehen, wer unten an der Haustür stand.
Dort vernahm er die Rufe seines Nachbarn Aleko. Er öffnete den eisernen Riegel und als er die Tür aufdrückte, blickte er in die Augen Alekos, die diesem vor Furcht fast aus den Höhlen traten.
„Albert, man hat unsere Läden angezündet und zerstört. Ganz Istanbul soll brennen!“
„Ich weiß, Aleko. Haydar hat mich angerufen. Ich werde zum Laden hinfahren.“ Im Gegensatz zu Alekos panischem Verhalten beschäftigte Albert – nachdem er seine erste Angst überwunden hatte – die Frage, wie er zu dieser nächtlichen Stunde nach Sultanhamam gelangen konnte.
„Ich komme mit!“, rief Aleko, der durch die entschlossene Haltung Alberts bestärkt, sogleich seine Furcht abschüttelte.
„Dann komm! Wir versuchen mit dem Wagen über die Küstenstraße durchzukommen.“
Als sie mit eiligen Schritten durch das Gartentor traten, herrschte auf der sonst ruhigen Straße große Geschäftigkeit. Die beiden blickten sich aufmerksam um: Die Straße schien ein anderes Licht zu beleuchten als in gewöhnlichen Nächten. In allen umliegenden Villen mit nicht-muslimischen Bewohnern brannte Licht. Auch in den Gärten war überall Bewegung. Nachbarn besuchten einander.
Als sie mit Alekos Desoto an der Straßenecke hielten, stieg Nachbar Artin zu. Auf der Hauptstraße stellten sie fest, dass noch einige weitere Autos in Richtung Küstenstraße unterwegs waren.
„Was ist denn passiert? Hast du etwas gehört?“ In Yeşilköy erfasste Aleko wieder Panik, denn solche Ereignisse hatte es bisher nie gegeben. Albert dagegen schaute, als sie auf der Höhe von Bakırköy waren, auf den Lichtschein, den die in der Ferne lodernden Flammen an den Himmel warfen. Er fragte sich: „Mein Gott! Was geht hier vor?“ Da fiel ihm der Zeitungsverkäufer vom Abend zuvor ein. Als Albert am Sirkeci-Bahnhof in den Vorortzug steigen wollte, hatte er laut ausrufend die Zeitung İstanbul Ekspres verkauft: „Neueste Ausgabe! Neueste Ausgabe! Bombenanschlag auf Atatürks Haus in Saloniki!“ Die Menschen im Bahnhof umringten den jungen Verkäufer und rissen ihm die Zeitungen aus der Hand. Die Nachrichten hatten auch Alberts Interesse geweckt und er wollte auch eine Zeitung kaufen, doch weil er befürchtete, seinen Zug zu verpassen, verzichtete er darauf.
Angesichts der Flammen, die aus den Häusern von Kumkapı hoch zum Himmel loderten, fragte er sich: „Haben diese Übergriffe vielleicht mit dieser Nachricht zu tun?“
„Mein Gott! Die Stadt brennt!“, rief er laut.
„Was sagst du? Was brennt?“, fragte Aleko und wollte nach Kumkapı hinüberschauen. Albert forderte ihn auf: „Sieh nur nach vorne, Aleko! Wir stehen hier vor einer Katastrophe. Wir müssen sofort in die Innenstadt fahren.“ Ihre Herzen schlugen immer schneller.
Als sie sich Sirkeci näherten, sahen sie über verschiedenen Stadtteilen roten Feuerschein und Rauchwolken.
„Aleko! Lass uns nicht weiterfahren. Wir wollen den Wagen hier irgendwo stehen lassen und zu Fuß weitergehen.“ Albert, in dessen Augen sich das Rot des Feuers spiegelte, schien zu ahnen, dass in der Innenstadt schlimme Dinge vorgingen. Er folgte Alberts Vorschlag und lenkte den Wagen in eine stille Gasse in Sarayburnu. Als sie sorgenerfüllt ausstiegen, hörten sie aus der Ferne ein Brausen. Sie blickten einander nur wortlos an und begannen zum Meer zu laufen. Je näher sie Sirkeci kamen, desto stärker wurde dieses Geräusch, dessen Ursache sie sich nicht erklären konnten. Erst als sie am Sirkeci-Bahnhof anlangten, begriffen sie, woher der dröhnende Lärm kam. Bei dem sich ihnen bietenden Anblick traten ihnen fast die Augen aus den Höhlen. Sie waren sprachlos und große Angst erfüllte ihre Herzen. Eine große Menschenmenge schlug mit Hämmern, Äxten und Stöcken die Scheiben der Geschäfte ein. Die Menschen stürmten in die Läden, rissen die Waren aus den Regalen und warfen sie auf die Straße. Wie Tiere, die vor Hunger ganz außer sich waren und denen der Schaum vor dem Maul stand, plünderte die Masse alle Läden und zündete sie an. Stoffballen, Schuhe, Wollknäuel, Teller und Schüsseln flogen durch die Luft. Ungläubig beobachteten Albert und Aleko durch einen Türspalt ihres Verstecks die Menschen, die alle Hemmungen verloren hatten. Alekos Augen füllten sich mit Tränen. An Alberts Augen dagegen konnte man ablesen, dass er nicht glauben konnte, was er sah.
„Wir müssen uns zu unseren Läden durchschlagen, Aleko!“ Albert erkannte, in welch bedauernswertem Zustand Aleko war und verlieh seiner Stimme deshalb einen autoritären Unterton.
„Du hast Recht Albert! Aber wie soll das gehen? Diese Leute reißen uns in Stücke, so wie die Stoffballen!“, sagte Aleko mit vor Angst zitternder Stimme.
Albert gab ihm im Stillen Recht. Ihr Versteck kam ihm wie eine Falle vor.
Mit Aufregung in der Stimme sagte er: „Wir müssen hier herauskommen!“ Doch gleichzeitig musterte er ihren Unterschlupf im Licht des Flammenscheins, der von draußen hereindrang. Er schaute unter die nach oben führende Treppe und tastete mit den Händen die Kanten der Mauer ab. Dabei stieß er auf etwas hartes, das beim Berühren herunterfiel und schwer auf den Boden schlug. Albert hob den Gegenstand auf und hielt eine eiserne Feuerzange für ein Kohlebecken in Händen. Er trat schnell an Aleko heran und rief: „Wir müssen aussehen wie diese Leute!“ (...)

Albert zog das Jackett aus und forderte auch Aleko auf: „Ziehe deine Jacke aus!“
Aleko blieb verwundert, wie angewurzelt stehen. Albert erregte sich, zog an Alekos Ärmel und befahl ihm: „Nun los! Ausziehen!“ Schließlich gehorchte Aleko, auch wenn er nicht verstand, was das sollte. Albert packte nun die beiden Kragenspitzen von Alekos weißem Hemd und riss das Hemd auf. Die Knöpfe sprangen ab und fielen auf den Boden. Dann streifte er Aleko die Hosenträger herunter und zog ihm das Hemd aus der Hose. Am Ende wischte er mit den Händen Schmutz vom Boden auf, den er auf Alekos schneeweißes Hemd und auf sein Gesicht schmierte. Auch die schwarzen, mit Brillantine eingeriebenen Haare Alekos wurden mit dem Schmutz des Bodens besudelt. Er trat einige Schritte zurück und schaute seinen Freund an, als wollte er ein gerade geschaffenes Kunstwerk begutachten. Kurz darauf fiel sein Blick auf die Schuhe Alekos, die im hereindringenden Licht des Feuerscheins glänzten.
„Ziehe sofort deine Schuhe aus!“ Aleko ließ sich nicht zweimal auffordern. Als er kurze Zeit später wieder in dieselben Schuhe schlüpfte, erkannte er sie nicht wieder, denn Albert hatte sie mit der eisernen Kohlenzange übel zugerichtet.
Nun war sich Albert sicher, dass Aleko genau wie die Plünderer draußen aussah und richtete auch sich selbst entsprechend her. Sie konnten ihr Versteck jetzt verlassen.
„Nun höre mir genau zu, Aleko! Wir müssen uns zu den Läden durchschlagen!“ Ich habe ebenso wie du Angst, doch wir haben keine Wahl! Es sieht nicht aus, als würde sich die Situation entspannen. Und wir können ja nicht die ganze Nacht in diesem Loch verbringen.“ Albert sah nun, dass die erste Furcht aus Alekos Augen gewichen war und redete weiter auf ihn ein: „Wenn ich die Tür öffne, werden wir sofort hinausstürmen und immerzu ‚Zypern ist türkisch’ und ‚Zypern wird türkisch bleiben!’ rufen. Dabei werden wir uns unter die wilde Menge mischen. Nimm die Feuerzange und schlage damit auf alles, was auf dem Boden liegt oder durch die Luft fliegt. Und hüte dich davor, mit jemandem zu reden. Sie könnten nämlich an deiner Aussprache erkennen, dass du Grieche bist. Ich hoffe, es wird uns gelingen, am großen Postamt vorbei nach Mahmutpaşa durchzukommen. Wenn wir uns in der Menge verlieren sollten, dann bleib bloß nicht stehen. Unser Ziel ist der Laden! Vergiss das nicht!“ Aleko hatte ihm aufmerksam zugehört.