Leseprobe aus dem Roman

Streit am Taubstein

von Orhan Çelik

in Übersetzung von Sabine Adatepe

1


Noch vor Tagesanbruch hatte er sich auf den Weg gemacht, um Hamzas Lastwagen nicht zu verpassen. Er hatte gewartet, bis die Sonnenstrahlen zu wärmen begannen. Doch aus unerfindlichen Gründen kam und kam der Lastwagen Hamzas des Hinkenden an jenem Tag nicht. Er saß auf einem Stein. Je länger er wartete, umso heftiger bedrängte ihn das Unbehagen, das die Warterei heimtückisch in sich barg. Die Mattigkeit, verstärkt durch die sich zunehmend erwärmende Luft, vertiefte dieses Unbehagen noch. Seine Blicke verloren sich eine Weile in dem Bach am Straßenrand. Er bewunderte die Klarheit und die Strömung des Wassers. Eine Zeitlang konnte er den Blick nicht von den Wassern lösen. „Woher kommt es, und wohin fließt es wohl?“, überlegte er. Er hatte selbst gesehen, wie es durch zahlreiche Dörfer floss. Etwas in ihm begann zu murmeln. Bald verstärkte sich das Gemurmel zu einem Lied. Lange vermochte er nicht, das Lied laut herauszusingen. Die zunehmende Sonneneinstrahlung schien auch die Fische im Bach zu beleben. Jeden einzelnen Fisch versuchte er zu zählen. Ein unmögliches Unterfangen. Er drehte sich um und schaute zum großen, tauben Felsen hinüber, dem Sağırtaş. Noch immer kein Ton von Hamzas Lastwagen, noch sonst ein Geräusch. In der Ferne stieg eine dünne Staubwolke auf. Eine Weile konzentrierte er seinen Blick darauf. Doch bald merkte er, dass es nur der Wind war, der dort den Staub aufwirbelte. Dann lenkte er den Blick auf die Hänge am anderen Flussufer und verlor sich in Gedanken. Sehnsucht stieg in ihm auf. „Pe hey! ... Soll man etwa das Dorf verlassen und nach Arabien gehen?“, sprach er vor sich hin. Dann schwieg er wieder und bedauerte seine Armut. „Na und, wohin das Brot wandert, dahin folgt man eben“, sagte er sich. Er richtete den Blick auf die Fische, die aus den Tiefen des Baches zum Ufer hinstrebten. Ihm gefiel das Plätschern, das ihre Bewegungen hervorbrachten; es erinnerte ihn an Vogelgezwitscher. „Auch ihnen geht es um Nahrungssuche. Doch ihre Sorge ist nicht halb so schlimm wie meine. Haben die vielleicht eine Familie zu versorgen? Die laichen eben ein paar tausend Eier ab und kümmern sich ansonsten nur ums eigene Vergnügen. Doch wie schwer ist es für uns Menschen, unser Auskommen zu sichern. Dazu noch in diesen Zeiten. Die Preise steigen von Tag zu Tag. Geh nach Istanbul und arbeite – nur um dann nicht mal einen Sack Lebensmittel nach Hause bringen zu können!“, murrte er. Dann löste er sich aus seiner Gedankenwelt, drehte sich wieder um und schaute auf den Sağırtaş. Ein Abschnitt der Straße verschwand ganz in einer Staubwolke. Er erkannte ein Taxi, das vom Fluss Hemo her heraufkam. Sofort lief er zur Straße. Er zog die Mütze und schwenkte sie ein paar Mal, um das Taxi anzuhalten. Als der Wagen herangekommen war, hielt er an. Der Fahrer rief:
„Wohin, Landsmann?“
„Ich? Nun, ich will nach Arabien.“
Der Fahrer lächelte.
„Dann steig ein, machen wir also eine Tour nach Arabien.“
Er setzte gerade den Fuß ins Taxi, als ihm seine Tasche einfiel.
„Pe hey! Ich hab meine Tasche vergessen!“

Der Fahrer lachte laut auf und tippte den Fahrgast an seiner Seite an:
„Mensch, sieh dir den an! Welche Eile!“
Der Fahrgast auf dem Beifahrersitz war mit Papieren in einer Akte beschäftigt. Seine Aufgabe war es, die Umgebung daraufhin zu überprüfen, wo man am besten Strommasten aufstellen sollte. Er schloss die Akte und wartete einen Moment ab. Dann sagte er leise:
„Da haben wir die Naivität unserer Menschen aus dem anatolischen Ödland. Mag sein, dass er einer von jenen ist, die neuerdings von Saudi Arabien begeistert sind. So wie er ist, will er losziehen, Geld verdienen und damit seinen Lebensunterhalt sichern. Hat man sowas schon erlebt? Der Segen der Elektrizität in der Region ist gar nicht hoch genug zu schätzen!“
Heseno holte seine Tasche vom Bachufer und eilte zum Taxi zurück. Er stellte die Tasche links neben sich auf den Sitz. Der Kassettenrekorder spielte Lieder voller Sehnsucht. Dann richtete der wie ein Bürokrat gekleidete Fahrgast eine Frage an ihn:
„Landsmann, sagen Sie uns, wie Sie heißen?“
„Mein Name? Also, eingetragen bin ich als Hasan, aber man nennt mich Heseno.“
„Warum wurde Ihr Name denn geändert?“
„Was weiß ich, mein Herr. Hier hat jeder zwei Namen. Einer steht im Register. Der andere ist unser eigener Name. Also, das soll ja nun kein Eigenlob sein, aber in meiner Kindheit soll ich recht flink gewesen sein. Mein verstorbener Großvater hatte mich sehr gern, deshalb hat er mich Heseno gerufen, und dabei ist es dann geblieben.“ Er errötete ein wenig, doch mit der Scham stieg auch sein Mut zu sprechen.
„Mein Herr, wenn's erlaubt ist zu fragen, was machen Sie denn beruflich?“
„Ich bin mit den Arbeiten für neue Stromanschlüsse beschäftigt. Ingenieur für Elektrizität bin ich von Beruf.“
„Pe hey! Maşallah! Möge Gott seine Hand über Sie halten. Ja! Das wäre toll, wenn dieser Strom ins Dorf kommt.“
Aus der Tasche neben Heseno drangen merkwürdige Geräusche. Der Ingenieur fragte:
„Was hast du denn da in deiner Tasche?“
„Da ist ein Zuchthahn drin.“
„Ein Zuchthahn? Und was hast du mit dem vor?“
Heseno wand sich ein wenig. Er hatte den Namen des Mannes vergessen, dem er den Hahn geben wollte. Aufgeregt bemühte er sich, eine Antwort zu finden, damit sein Gesicht nicht noch röter werde.
„Ich bring ihn zu einem Mann, der sich in der Kreisstadt um unsere Rechtsangelegenheiten kümmert. Gott schütze ihn. Er kümmert sich auch um meine Sache in Arabien. Er kommt aus einer guten Familie. Außerdem zählt er zu den Stammführern.“
Das Taxi hatte ein Drittel der Strecke zurückgelegt. Heseno sah sehr zufrieden aus. Zum ersten Mal fuhr er den Weg vom Dorf in die Kreisstadt in einem Taxi. Mit der Müdigkeit, die ihn nun überfiel, überließ er sich der Welt der Träume. Nachdem er eine Zigarette geraucht hatte, die ihm der Ingenieur angeboten hatte, fühlte er sich noch gelöster. „Da haben wir dem Herrgott einen Tag gestohlen. Ich habe ohnehin die Nase voll davon, auf der Ladefläche von Topal Hamzas Lastwagen hin- und herzufahren. Wer was zählt, fährt im Fahrerhaus mit. Ob nun Sofu Keleş, der Frömmler, oder der Dorfvorsteher ... Na, mir hat Zübeyir Agha schon gereicht“, dachte er. Wieder war es der Ingenieur, der die Stille im Taxi brach:
„Landsmann, wozu fährst du denn in die Kreisstadt?“
„Na, wegen dieser Sache, dieser Sache mit Arabien.“

„Also du willst als Arbeiter dorthin gehen?“
„Ja, ja. Um nach Arabien zu gehen.“
„Und wie kommst du dahin? Über eine Firma oder über das Arbeitsamt?“
Heseno überlegte einen Moment, dann sagte er:
„Eh, das werden wir schon sehen. Ich bin ja noch ganz neu bei der Sache.“
„Hast du deinen Pass schon erhalten?“
„Ne, ne. Das soll zwei Jahre dauern. Eine Menge Geld haben wir dem Mann auch gegeben. Den hab ich noch nicht, den Pass. So Gott will, heute. Diese Passgeschichte, Rechtsangelegenheit ... Heute kümmere ich mich darum.“
Der Ingenieur betrachtete Heseno eine Weile. Er schien ihn erst jetzt wahrzunehmen. Auch Heseno schaute den Ingenieur an. Einmal trafen sich ihre Blicke. Heseno schämte sich und senkte den Blick. Der Ingenieur dachte bei sich: „Unsere Leute, unsere merkwürdigen Menschen. Soll man nun Mitleid haben oder gleich weinen ... Menschen, die sich nach der Wüste Saudi-Arabiens sehnen. Dabei fehlt es dem paradiesischen Anatolien doch an nichts. Fabrikschornsteine, Bergwerke, was könnte man nicht alles machen. Aber leider gibt es eben nichts, gar nichts.“ Eine Weile war in der Stille nur das Motorengeräusch zu vernehmen. Der Ingenieur hätte seine Gefühle und Gedanken in diesem Moment gern jemandem mitgeteilt. Doch er tröstete sich damit, den Weg entlang die Umgebung zu betrachten.
Am Straßenrand waren Frauen und Mädchen damit beschäftigt, Tezek aufzusammeln. Unter den Kindern war Streit ausgebrochen. Beim Näherkommen erkannte Heseno sie alle. Eines der Kinder war seine eigene Tochter. Ihre Mutter hatte sie statt zur Schule zum Sammeln von Tezek geschickt. Er dachte an die Segnungen des Wohlstands. Das Barchentkleid seiner Tochter sah aus wie ein Flickenkittel. Hesenos gute Laune verflog. „Was, wenn meine Tochter mich erkennt und mich ruft? Was soll ich diesem Herrn dann sagen?“, überlegte er. Der Ingenieur schaute den nachdenklichen Heseno an, berührte ihn dann mit der Hand:
„Sag mal, woher stammt denn dieser Mann, der sich um die Arabien-Sache kümmert? Was ist sein eigentlicher Beruf?“
„Efendi, der Mann versteht viel von den Gesetzen. Ob Gesuche schreiben, ob Grundstücksangelegenheiten, außerdem ist er einer der oberen Leute im Stamm.“
„Gut, und was sagt er nun zu dieser Sache?“
„Also, er sagt: ‚Hab Geduld!‘ Was soll er sonst schon sagen?“
„Er ist also einer von denen, die sich aufspielen. Wie vielen Leuten wie dir mag er das Geld abgenommen haben. Wenn er für zwei Jahre das Geld von zwanzig Leuten auf die Bank legt, bekommt er dafür einen ganzen Batzen Zinsen.“
„Was weiß ich, Herr Ingenieur. Gott hüte jeden vor Zinsen!“


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